„Man findet den Panixerpass und das Dorf Pigniu (Panix) auf fast jeder Geografiekarte, was sicher zum grössten Teil Suworow zu verdanken ist“.
So beginnt das 1. Kapitel das Buches „Weltgeschichte auf der Dorfbühne“ von Arnold Spescha. Auf fast 400 Seiten widmet sich der einheimische Autor den Geschehnissen und den Geschichten rund um den Oktober 1799, welche sich im Bergdorf – seinem „dacasa“ – zugezogen haben. Spescha selbst wuchs in dem Haus auf, in welchem der russische General Alexander W. Suworow fast anderthalb Jahrhunderte früher übernachtet hatte.
Der Schlachtplan
Warum kam Suworow nach Pigniu?
Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Schweiz und Graubünden zu einem Kriegsschauplatz. Die neuen Ideen von Freiheit und Menschenrechten spalteten die Gesellschaft und die Monarchien von England, Österreich und Russland verbündeten sich gegen das revolutionäre Frankreich. Die französischen Truppen überschritten im März 1799 bei Sargans den Rhein und schon bald kam auch die Surselva unter französischer Flagge. Russische und Österreichische Truppen wollten die Franzosen aus den besetzten Gebieten (Deutschland, Italien und der Schweiz) vertreiben.
Nachdem es dem russischen General Suworow mit seiner Armee gelang, die Franzosen aus Norditalien zu verdrängen, erhielt er den Auftrag, in Zürich die russischen Truppen unter General Rimski-Korsakow zu unterstützen. Auch wenn dieser Befehl bereits am 25. August 1799 bei Suworow ankam, wartete er bis zum 15. September mit dem Aufbruch über die Alpen. Der 70jährige General und seine 22'000 Soldaten überquerten den Gotthard, wichen – abgedränkt von den Franzosen – über den Kinzigpass ins Muotatal aus und zogen dann über den Pragelpass ins Glarnerland. Auch hier musste er sich kämpfend zurückziehen und sich und seine Truppen über den Panixerpass absetzen.
« Nachdem man mir den Saft ausgepresst hat, der für Italien erforderlich war, wirft man mich über die Alpen».
General Alexander W. Suworow nachdem er am 25. August 1799 den Befehl zum Abmarsch in die Schweiz erhielt.
Bereits im Muotathal vernahm der russische General, dass sein Kollege Rimski-Korsakow, dem er zu Hilfe hätte eilen sollen, bei der Zweiten Schlacht bei Zürich von den Franzosen geschlagen worden sei. Somit änderte sich der (Schlacht-)Plan und es ging nun darum, die Schweiz raschmöglichst und unversehrt zu verlassen.
Die Reise
Der Marsch über den Panixerpass
Der Marsch über den Panixerpass – der höchste und schwierigste Pass, den die Armee überqueren musste – begann am 6. Oktober 1799 um 2.00 Uhr nachts. Der Chronist des russischen Zaren, Oberst Miliutin, beruhte sich bei der Verschriftlichung des Dramas auf Augenzeugenaussagen: „Alle ohne Unterschied, Soldaten, Offiziere und Generäle, waren halb barfuss, hungrig, entkräftet und bis auf die Knochen durchnässt. Jeder falsche Tritt kostete das Leben…Gegen 300 Lasttiere stürzten in die Abgründe und gingen jämmerlich zu Grunde. Alle noch übrigen Geschütze mussten in die Tiefe hinab geworfen werden…. Während die ersten Soldaten mit Suworow noch am gleichen Tag das Dorf Pigniu erreichten, hatten einige Truppen am Abend noch nicht einmal den Gipfel des Berges erreicht. Um das Elend voll zu machen, fiel während der Nacht eine solche Kälte ein, dass viele Soldaten erfroren. Der Weg wurde äusserst glatt und hiedurch das Hinabsteigen nur noch gefährlicher“.
Schlussendlich kommen 15‘000 unterkühlte und ausgehungerte Soldaten im Dorf Pigniu an, welches damals etwa 70 Einwohner zählte. „Die Russen zerstören Holzhäuser, Ställe und Zäune, um wärmendes Feuer anzuzünden, sie führen das Gross- und Kleinvieh aus den Ställen, schlachten es auf den Matten und verzehren das Fleisch fast roh. Sie rauben Decken, Kleider, Leinenzeug, Schuhe usw.“ Dies war 1954 in einem Feuilleton des Bündner Tagblattes zu lesen.
Si non è vero è ben trovato
Es wird erzählt...
… dass ein Pferd mit der Kriegskasse auch in den Abgrund gestürzt sein soll. Die Leute von Pigniu hätten die Kasse gesucht. Bewohner von Siat hätten sie aber gefunden. Andere erzählen, dass die Andiaster die Glücklichen waren.
… dass einige Männer aus Pigniu – der Zügellosigkeit der Soldaten überdrüssig – mit Trommeln und Gewehren in den Wald oberhalb des Dorfes gezogen seien. Mit Schüssen und Trommelschlägen und französischen Sprachbrocken hätten sie die Russen vertrieben, denn diese glaubten, erneut von den Franzosen verfolgt zu werden.
« Augenmass, Schnelligkeit, Stosskraft! Schiesse selten, aber sicher!»
Leitspruch von General Alexander W. Suworow.
das Schicksaldorf
Hundertmal geplündert
Das Jahr 1799 war schicksalsträchtig für Graubünden, die Surselva und vor allem auch für das kleine Bergdorf Pigniu. Nicht nur die Russen waren hier auf Durchreise, sondern auch die englischen, französischen und österreichischen Armeen hatten vorher bereits den Panixerpass überquert. So zog am 24. September 1799 eine Truppe Engländer unter General Linken u.a. auch von Pigniu über den Panixerpass ins Glarnerland. Weil aber General Korsakow in Zürich geschlagen wurde, kehrte Linken bereits am 30. September wieder über den Panixerpass zurück. Generalmajor Franz Auffenberg marschierte mit seiner österreichischen Brigade am 2. Oktober von Glarus über den Panixer ins Vorderrheintal und auch französische Truppen überquerten den Panixerpass. Eine grosse Schar von Franzosen sollen drei Tage in Pigniu biwakiert haben. Chrest Antoni Spescha, bei welchem Suworow in Pigniu Unterschlupf fand, soll gesagt haben, dass Pigniu während des Jahres 1799 mindestens hundertmal ausgeplündert worden sei. Und man hört, dass das Dorf hundert Jahre brauchte, um sich von diesen Invasionen erholen zu können.
Russers
Eine Speise aus Suworows Zeit
Zutaten:
- Rohe Kartoffeln
- Zieger oder alten Käse (rezent)
- Butter
Tipp:
Für vier Personen braucht man ungefähr anderthalb Kilo Kartoffeln. Die besten Russers gibt es mit neuen Kartoffeln.
Zubereitung:
Zuerst werden die Kartoffeln geschält und in Würfel geschnitten (nicht zu klein). Man kocht diese in Salzwasser. Sie dürfen aber nicht zu weich werden. Während die Kartoffeln sieden, wird der Käse gerieben. Früher nahm man dazu Zieger oder eine Mischung aus Zieger und Alpkäse.
Wenn die Kartoffeln gar sind, giesst man das Wasser ab und legt die Kartoffeln in eine Schüssel, jeweils in Schichten. Zuerst eine Schicht Kartoffeln und dann ordentlich Käse darauf. Und das wiederholt sich: Kartoffeln und darüber Käse, bis die Schüssel voll ist. Und obendrauf noch einmal eine Rechte Portion Käse.
Anschliessend wird die Butter geschmolzen und darüber gegossen. Eine Weile ziehen lassen. Vor dem Servieren mit Schnittlauch garnieren.
Dazu kann man einen grünen Salat servieren.
Rezept von Elisabeth Spescha-Alig
Die Stimme
Arnold Spescha
Geboren 1941 in Pigniu in der Surselva. Primarlehrer in Sevgein und Arosa. Studium der Romanistik in Zürich, Aix-en-Provence und Perugia. Doktorat. Musikstudium. Gymnasiallehrer für Französisch, Rätoromanisch und Italienisch an der Bündner Kantonsschule Chur. Konrektor. Lehraufträge für rätoromanische Linguistik und Literatur an den Universitäten Fribourg und Zürich. Dirigent bei der Militärmusik und der Stadtmusik Chur. Schreibt und veröffentlicht Lyrik und Prosa in Sursilvan. Verfasser der „Grammatica Sursilvana“ und des „Vocabulari fundamental sursilvan“. Historische Beiträge wie die Geschichte des Graubündner Kantonalen Musikverbandes oder „Schafhandel und Schafzüge über den Panixerpass“. Weitere Arbeiten zu Sprache, Literatur, Geschichte und Musik.
CRR-Preis (Cuminonza Rumantscha Radio e Televisiun) 2003, Bündner Kulturpreis 2007, Stephan Jaeggi-Preis 2022
Das Buch: Weltgeschichte auf der Dorfbühne, 3. Auflage 2023 / ISBN 978-3-907095-20-1
Foto: Mattias Nutt