Meister Eder, Meister Yoda oder Meister Proper: Kaum liest man ihre Namen, tauchen der Vater des Pumuckls, der Star-Wars-Held und Herr Saubermann vor dem geistigen Auge auf. Und der Waltensburger Meister? Der bleibt eine vage Vorstellung. Umso mehr zeichnet seine Kunst ein klares Bild. Zugegeben, der Vergleich eines ehrfürchtigen Malers aus dem Mittelalter mit Film- und Werbefiguren der Neuzeit hinkt. Gewaltig sogar. Und dennoch lässt mich der Gedanke nicht los: Wie kann es sein, dass wir den fiktiven Putzprotz eines Haushaltsreinigers sofort benennen können, jedoch nicht diesen talentierten Schöpfer der Waltensburger Freskenmalerei? Vielleicht, weil der im Mittelalter gelebt hat? Das wäre natürlich eine logische Erklärung. Jedoch nicht die einzige und nicht die beste. Ich bin nämlich zum Schluss gekommen, dass der Waltensburger Meister schon zu Lebzeiten ganz absichtlich im Schatten seiner Kunst stand. Denn die spricht nicht nur für sich, sondern die glänzt ganz von selbst – und das macht ein Putzmittel nun mal nicht. Aber lassen wir das mit den Vergleichen nun endgültig und machen uns auf eine beeindruckende Reise in die Welt des mysteriösen Freskenmalermeisters. Mich nahm Guido Dietrich, Mitglied der Museumskommission und Vereinspräsident der Werkstatt «Waltensburger Meister», auf die mittelalterliche Gedankenexkursion mit. So durfte ich direkt vom Experten über den Meister lernen. Und Sie nun von der Schreiberin. Immerhin.

Waltensburg/Vuorz
Burg Jörgenberg und die Häuser Gottes
Auf einer Höhenterrasse am sonnenverwöhnten Südhang der Surselva liegt Waltensburg/Vuorz. Ein pittoreskes Bergdorf. Schon vom Tal aus ist die mächtige Burgruine Jörgenberg auf einem Felsen östlich des Dorfes zu erkennen. Auf eben dieser Burg Jörgenberg befand sich die erste bestätigte Kirche im Gebiet Waltensburg: die Georgskirche. Sie wurde bereits in der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts erwähnt. Als auf Jörgenberg zwischen 1330 und 1343 Erbstreitigkeiten und Besitzerwechsel den Alltag dominierten, gingen der Bergfried und ein Teil der Burgmauern in Flammen auf. Die Burgmauern wurden daraufhin leicht versetzt wieder aufgebaut, neue Wohnräume kamen dazu. Jörgenberg wurde so lange bewohnt, bis der Standort irgendwann verlassen wurde und Burg und Georgskirche im Laufe der Jahrhunderte zerfielen. Ab 1930 wurde die Burgruine schlussendlich in zwei Etappen freigelegt und der Kirchturm, die Burgruine und die Kirche gesichert und die Kirche teilweise rekonstruiert. Heute ist Jörgenberg besonders bei Familien ein beliebtes Ausflugsziel. Die Dorfkirche Waltensburg ist vermutlich jünger als die Georgskirche und stammt wohl aus der Zeit um die erste Jahrtausendwende. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Kirche erweitert und ihr Erscheinungsbild änderte sich mehrfach. Heute besteht die pittoreske Kirche aus einem kleinen Schiff mit einem Rechteckchor, einem Glockenturm und einer Sakristei. Seit Ende des 17. Jahrhunderts sind die Räumlichkeiten unter einem gemeinsamen Dach vereint. Die reformierte Waltensburger Dorfkirche wirkt auf ihrem Felsplateau wie eine kleine evangelische Insel im vorwiegend katholisch geprägten Tal. Eine Seltenheit! Was die kleine Kirche jedoch wahrhaftig einzigartig macht, sind ihre Wandmalereien!

Die Freskenkunst
Des Meisters Meisterwerk
Die Dorfkirche von Waltensburg schmücken faszinierende Wandmalereien aus dem 14. und 15. Jahrhundert, die von insgesamt vier Werkstätten geschaffen wurden. Die Fresken aus der Werkstätte des anonymen Waltensburger Meisters sind dabei die bekanntesten, ältesten und am besten erhaltenen. Sie beeindrucken besonders durch feine Details und intensive Farben. Der Meister verwendete verschiedene Farbpigmente wie roten Ocker, rotes und rotbraunes Eisenoxyd, Zinnober und Mennige, gelben Ocker, sowie Azurit, grüne Erde, Kalk, Pflanzenschwarz und Kupferblau. Dieses stellte er aus Kupfer oder Grünspan, Kalk, Essig und Salmiakgeist her. Besonders auffällig ist jedoch die Vielzahl an Rottönen in der Farbpalette der Werkstatt. Die grosse Palette ermöglichte es dem Meister, sehr detailreich zu malen. Gerade in Waltensburg ist diese Detailverliebtheit des Meisters zu beobachten. Seine Freskenkunst an der Nordwand der Dorfkirche gilt wegen dieser Detailverliebtheit und wegen der durchdachten Bildkompositionen als sein grösstes Meisterwerk. Sie wirft ein – sprichwörtlich und tatsächlich – farbiges Licht auf vergangene Zeiten, als Könige, Bischöfe und Ritter eine bedeutende Rolle spielten und das Leben der einfachen Leute geprägt war von harter Arbeit. Die Szenarien basieren auf der Bibel und Heiligenlegenden. Die Fresken zeigen, wie im Spätmittelalter Geschichten und literarische Texte in aussagekräftige Bilder transformiert wurden. Die Dorfkirche von Waltensburg ist somit nicht nur ein religiöses und historisches Juwel, sondern auch ein Zeugnis für die Kreativität und die künstlerischen Fähigkeiten vergangener Generationen.

Ein Glücksfall
Frisch, frischer, al fresco
Wie wir bereits wissen, hat die Kunst des Waltensburger Meisters ihn selbst um Jahrhunderte überdauert; dabei verschwand auch sein Waltensburger Meisterwerk – wie der Meister selbst – einst aus der Erinnerung der Menschen. Rund 500 Jahre lang ging es unter einer dicken Schicht Kalkputz vergessen. «Wie schade», denken Sie sich nun vielleicht. Ging mir nicht anders. Tatsächlich war es aber ein Glück! So wurden die Fresken bestens konserviert, bis sie in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts bei Renovationsarbeiten wiederentdeckt und freigelegt wurden. Dieses Schicksal wünschen wir dem Waltensburger Meister natürlich nicht. Gott bewahre! Aber sein Schaffen etwas genauer unter die Lupe nehmen, das sollten wir unbedingt. Denn er war grandios. Und er hatte wahrhaft talentierte Mitwirkende – oder zehn Arme, was natürlich Blödsinn ist. Da der Waltensburger Meister «al fresco» malte, war er auf mindestens einen Gesellen oder eine Gesellin – was im patriarchalen Mittelalter eher unwahrscheinlich erscheint – angewiesen. Bei der Freskentechnik werden die wasserverdünnten Farbpigmente auf den noch feuchten Putz aufgetragen. Das erfordert ein sehr schnelles und schrittweises Arbeitsvorgehen. So war der Meister für die Komposition und die Feinheiten zuständig, während wohl mehrere Gesellen sich auf den flächigen Auftrag der Farben konzentrierten. Sie begannen mit einer weissen Grundierung und zeichneten dann mit rotem Ocker die Konturen vor. Die umrissenen Bereiche wurden mit einem Grundton ausgefüllt, bevor der Meister die Details, Gesichter, Hände und Gewänder vollendete. Schliesslich kamen Attribute und Ornamente hinzu. Kostbare Blaupigmente wurden nur sehr sparsam und zum Schluss verwendet. Apropos zu einem Schluss kommen: Die Anwendung der Fresco-Technik stammt aus dem Süden. Das lässt darauf schliessen, dass entweder ein Mitglied der Werkstätte oder gar der Meister selbst die Technik auf der anderen Seite des Lukmaniers erlernte oder aber ein italienischer Geselle Teil der Werkstatt war. Hingegen befinden sich alle bisher dem Waltensburger Meister zugeschriebenen Werke im heutigen Graubünden nördlich der Alpen und auch sein Stil ist geprägt vom nördlichen, gotischen Stil des Bodenseeraums. An 20 Bündner Standorten hinterliess der mysteriöse Meister seinen künstlerischen Fingerabdruck – und der ist bekanntlich einzigartig! Namen hingegen sind es nicht. So versinkt der Waltensburger Meister im Dunkeln und unser Blick in seiner Kunst. Oder in den Worten des Meisters Yoda: «Für die Ewigkeit schaffen du musst.»