Jeu sun in ischi – ich bin ein Ahorn. In Trun verwurzelt. Meine Äste jedoch ragen weit über die Ortsgrenze hinaus. Rein symbolisch natürlich. Berühmt bin ich schliesslich nicht für mein ausladendes Blattwerk, sondern weil an meinem Standort der Eid geschworen wurde. Ja, genau. Der Eid. Ich bin uralt. Und wer uralt ist, der hat viel gesehen im Leben. Einfach so, ohne gross etwas dazuzutun. Die Alten unter euch, die werden jetzt zustimmend nicken. Und die Jungen, die dürfen es für einmal einfach glauben. Eine gar unglaubliche Geschichte hat sich hingegen unter der dichten Blätterkrone meines direkten Vorfahren abgespielt: die Neubeschwörung des Grauen Bundes. Dieses Bündnis jährt sich heuer schon zum sechshundertsten Mal. Ganz so alt bin ich noch nicht. Ich wurde 1870 aus dem Keimling des legendären Bündnisbaums gezogen, der damals leider einem Sturm zum Opfer viel. Da fällt mir auf: Das ist auch schon wieder über 150 Jahre her. Ach, wie schnell die Zeit vergeht, selbst wenn man einfach nur so dasteht. Tief
verwurzelt in der Erde, neben der Kapelle «Sontg’Onna» in Trun. Ein schöner Ort ist das übrigens, eingebettet in die überwältigende Natur der oberen Surselva. Das ist meine Heimat und der Geburtsort, den ich mit dem Grauen Bund teile. Der Ligia Grischa.

Das Jubiläum
600 Jahre Ligia Grischa
Mein Vater stand als junges Bäumchen daneben, als am 16. März 1424 der Graue Bund beschworen wurde. «Schi ditg che stattan cuolms e vals», schworen sich die ernsten Männer in seinem Schatten feierlich: «Solange Berge und Täler stehen, so lange wollen wir füreinander einstehen.» Also für immer. Damals war wohl niemandem die Tragweite dieses Eides bewusst. Logisch, es ist ja bekanntlich immer die Zeit, die es zeigt. Heute, als gestandener Ahorn und echter Bündner Baum, weiss nicht nur ich: Die Erweiterung des Oberen Bundes zum Grauen Bund war mehr als wegweisend. Der Vorgänger des Grauen Bundes, der Obere Bund, bestand aus 21 Gerichtsgemeinden der Talschaften des Vorder- und Hinterrheintals. Bereits in seinem Gründungsjahr 1395 weitete er sich aus und umfasste bald das gesamte Vorderrheintal. Mit der Neubeschwörung und Vertiefung des Bündnisses zum Grauen Bund wurde Trun 1424 zum sogenannten «Sitz eines unparteiischen Bundesgerichts» mit richterlicher Zentralgewalt und einheitlicher Zivilgesetzgebung. Und auch strategisch erlangte der Graue Bund eine überaus wichtige Bedeutung: Mit der Erweiterung um die Talschaften Hinterrhein, Heinzenberg-Thusis, Schams und Rheinwald kontrollierte er fortan die bedeutenden Transitpässe in den Süden. Gemeinsam mit dem Gotteshausbund und dem Zehn-Gerichte Bund entwickelte sich der Graue Bund ab 1450 zu einem eigenständigen staatlichen Gebilde: dem Freistaat der drei Bünde. Dieser Freistaat wiederum ging in die helvetische Republik über. 1803 kam das Gebiet als Kanton Graubünden zur Schweiz. Das «Grau» in Graubünden kommt übrigens nicht vom Wetter. Sonst hiesse es ja viel treffender Keinnebelbünden oder Überdemgraubünden. Nebel haben wir nämlich äusserst selten in Trun. Und ich muss es schliesslich wissen. Ich bin ein Baum. Ich stehe seit ewigen Zeiten und bei jedem Wetter draussen. Aber lassen wir das. Das «Grau» in Graubünden kommt angeblich von der damaligen Kleidung der einfachen Leute. Sie soll die Namensgeberin des Bundes und später sogar des Kantons gewesen sein. Wie geht schon wieder das Sprichwort? Kleider machen Kantone? Ach, was weiss ich. Ich bin ja bloss ein alter Ahorn.

Ein ganzes Jahr lang feiern
Jubiläumsfestivitäten – Sut igl Ischi 2024
Ein Sprichwort kenne ich übrigens doch: Feste soll man feiern, wie sie fallen. Und das 600-Jahr-Jubiläum der Ligia Grischa fällt auf das Jahr 2024. Also feiern wir hier in Trun ein ganzes Jahr lang. Und ich bin mittendrin statt nur dabei – obschon ich bloss rumstehe. Die Feierlichkeiten finden nämlich unter dem Motto «Sut igl Ischi 2024» statt. Also unter dem Ahorn. Also unter mir. Das erste Highlight der Feierlichkeiten ist die Multimedia-Produktion «Sagen und Fakten eines stillen Zeugen». Samt Livemusik von einem Orchester, Chören und Solisten erzählt die Produktion eindrucksvoll die Geschichte meines Vorfahren und die eines mysteriösen Gegenstandes. Die musikalische Leitung liegt bei Clau Scherrer. Lorenz Dangel ist für die Komposition und Gieri Venzin für die Regie und die Produktion verantwortlich. Ein weiterer Höhepunkt ist die Konzertreihe des Männerchors Ligia Grischa mit Werken des Komponisten und Dirigenten Christoph Cajöri und Texten von Adolf Collenberg. Begleitet wird der Chor von einem Musikquintett. Die Spektakel- Trilogie komplett macht die Freilichttheateraufführung mit dem Titel «Ligia 2.0». Das Theater thematisiert die Bedeutung von Bündnissen und Autonomie. Eine Thematik, die heute ebenso aktuell ist wie damals. Der Autor des Stücks ist der aus Trun stammende Michel Decurtins. Die eigens für das Stück komponierte Musik stammt von Mario Pacchioli. René Schnoz ist für die Regie verantwortlich. Die Produktion wird von Esther Berther geleitet. Darüber hinaus runden diverse und vielseitige Beiträge von Kulturorganisationen und Vereinen das Jahresprogramm ab. Die Jubiläumsausstellung im Museum «Sursilvan Cuort Ligia Grischa» erweitert die Palette noch zusätzlich. Das Museumsgebäude ist übrigens – nebst Protokollen und Urkunden– das authentischste Objekt, das heute noch von damals zeugt! Abgesehen von meinem Stammbaum natürlich.